Seit anderthalb Jahren ist Benedikt Doll weg von der internationalen Biathlon-Bühne, doch am 31. August will er es nochmal wissen.
Biathlon: „Bin ich es der deutschen Gesellschaft schuldig?“
Dolls Leben nach dem Rücktritt
Der 35-Jährige wird beim Legends-Race in Dresden teilnehmen und dabei gegen die norwegischen Biathlon-Stars Johannes Thingnes und Tarjei Bö antreten. Beide hatten ihre Karrieren nach dem vergangenen Winter beendet. Doll tat dies bereits nach der Saison 2023/24.
Die kommende Weltcup-Saison wird Doll dann wieder aus der inzwischen gewohnten Zuschauerrolle verfolgen.
Ursprünglich wollte der achtfache Weltcupsieger und Sprint-Weltmeister von 2017 nach seinem Karriereende ein Studium der Gebäudetechnik beginnen. Dann entschied er sich jedoch für eine Ausbildung zum Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik. SPORT1 hat nun mit ihm gesprochen.
SPORT1: Herr Doll, Sie schnallen sich beim Sommer-Biathlon in Dresden noch einmal das Gewehr auf den Rücken und nehmen an einem Legendenrennen teil. Auf Instagram haben Sie Bilder vom Training gepostet und dazu geschrieben: „Als hätte ich erst gestern aufgehört.“ Wie gut beherrschen Sie den Sport noch?
Benedikt Doll: Wirklich überraschend gut. Viele Abläufe sind noch weitgehend drin. Beim Schießen wackelt natürlich alles ein kleines bisschen mehr als früher. Ich hatte nicht einmal eine eigene Waffe, sondern habe mit einer von unserem lokalen Stützpunkt trainiert. Trotzdem habe ich mich jetzt nicht so gefühlt, als hätte ich zum ersten Mal in meinem Leben Biathlon betrieben (lacht).
“Ich bin da mehr Dekoration”
SPORT1: Wie oft standen Sie nach Ihrem Karriereende noch an einem Schießstand?
Doll: Vielleicht zwei- oder dreimal. Im Grunde fast gar nicht.
SPORT1: Was sind Ihre Erwartungen an das Event?
Doll: Der Veranstalter fragte mich an und sagte, dass Tarjei und Johannes Thinges Bö kommen. Ich weiß gar nicht, ob wir mittlerweile mehr als drei Leute sind – die wirklichen Legenden sind ja die Bö-Brüder. Ich bin da mehr Dekoration. Es wird selbstverständlich in erster Linie um Spaß gehen und nicht darum, auf der Strecke jede Sekunde rauszuholen. Wenn wir anfangen würden, um jede Zehntelsekunde zu kämpfen, wäre das etwas affig. Aber als Sportler tickt man oft ein bisschen anders. Ich glaube schon, dass man am Ende schauen will, dass am Schießstand alles passt und man auch auf der Strecke vorankommt. Der Ehrgeiz treibt einen immer an.
SPORT1: Johannes Thingnes Bö war in den vergangenen Wochen sportlich sehr aktiv. Er lief einen Marathon und spielt jetzt Fußball. Wie sieht es in dieser Hinsicht bei Ihnen aus?
Doll: Ich bin mit einem Team beim Ultrabike-Marathon im Schwarzwald mitgefahren. Das ist eines der größten Radrennen in Europa. Ansonsten beschränke ich mich eher auf lockeren Freizeitsport. Ich habe zwei Kinder zu Hause und eine Ausbildung im Gange. Da bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich habe mir aber vorgenommen, im nächsten Jahr wieder an einem Lauf teilzunehmen. In unserer Nähe findet der Schluchseelauf über eine Distanz von 18,2 Kilometern statt.
“So konnte ich mein Hobby zum Beruf machen”
SPORT1: Sie beendeten Ihre Biathlon-Karriere vor etwa eineinhalb Jahren. Wie haben Sie die Zeit danach bisher erlebt?
Doll: Insgesamt sehr positiv. Ich hatte eigentlich gehofft, dass ich erstmal ein halbes Jahr Ruhe habe, bevor die Ausbildung losgeht. Aber irgendwie war in dieser Zeit immer etwas los. Jetzt habe ich mich im neuen Leben langsam gut eingefunden. Ich finde es unfassbar schön, nicht mehr ständig planen zu müssen, wie lange man noch zu Hause ist, bevor man wegen des Leistungssports wieder für eine Weile geht. Ich bin häufig da und kann viel Zeit mit meinen beiden Kindern verbringen. Das genieße ich sehr.
SPORT1: Momentan befinden Sie sich in einer Ausbildung zum Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik. Wie kommen Sie damit voran?
Doll: Ich habe ein Lehrjahr abgeschlossen und beginne nun das dritte, weil ich erst im zweiten eingestiegen bin. Die ganze Geschichte dauert noch anderthalb Jahre, und es läuft sehr, sehr gut. Das Unternehmen, in dem ich untergekommen bin, ist toll. Die Arbeit macht mir wahnsinnig Spaß und die Kollegen unterstützen mich super. Es fühlt sich nach wie vor wie die richtige Entscheidung an. So konnte ich im Prinzip mein Hobby zum Beruf machen. Elektrotechnik fasziniert mich seit jeher.
SPORT1: Für einen ehemaligen Profisportler ist das dennoch kein ganz gewöhnlicher Weg.
Doll: Absolut. Trotz allem war und ist es mein Wunsch. Man muss sich natürlich nichts vormachen: Mit einer gewissen Bekanntheit gäbe es leichtere Wege, Geld zu verdienen. Ich bin dem Sport nach wie vor sehr verbunden und freue mich, wenn ich mal bei einem Weltcup zu Besuch sein kann. Aber das Handwerk hat auch viele fantastische Seiten.
Biathlon-Coach? “Hauptberuflich ist das im Moment keine Option”
SPORT1: Sie sitzen jetzt mit 35 Jahren wieder in der Schule und teilen sich ein Klassenzimmer mit 16-, 17- und 18-Jährigen.
Doll: In meiner Klasse sind auch einige Ältere dabei. Da liegt der Altersdurchschnitt vielleicht bei etwa 23 Jahren. Für mich ist das sehr angenehm. Wenn ich in eine andere Klasse gekommen wäre, in der der Altersunterschied krasser ist, wäre das womöglich eine andere Sache gewesen. Aber klar, natürlich merkt man, dass 18-Jährige andere Sorgen haben als 34-Jährige. Familienplanung und eigene Kinder sind da eher selten Thema.
SPORT1: Was für ein Schultyp ist Benedikt Doll - der Coole aus der letzten Reihe oder der Aufmerksame ganz vorne?
Doll: Sind wir ehrlich, ich bin 35 Jahre alt. Von mir gibt es da keine Quatschsachen oder Späße mehr (lacht). Ich versuche, in der Schule so viel wie möglich aufzusaugen, damit ich zu Hause nicht mehr so viel lernen muss. Meinen Mitschülern helfe ich sehr gerne. Aber ich hasse es, wenn mich während des Unterrichts jemand anquatscht und mich vom Thema ablenkt. So war ich schon als Kind. Ich dachte mir jedes Mal: Alles, was ich in der Schule erledige, muss ich daheim nicht mehr machen. Das hat sich bis heute nicht großartig geändert.
SPORT1: Hat Sie der Job als Biathlon-Trainer nie gereizt?
Doll: Doch, am Trainersein hätte ich garantiert auch Freude, aber in der Elektrotechnik empfinde ich noch mehr Spaß. Es war nicht so, dass ich gesagt habe: ‚Ich will auf keinen Fall Trainer werden.‘ Irgendwie wollte ich erstmal etwas anderes machen, das hat mich mehr gereizt. Aber nichts ist für immer. Vielleicht habe ich eines Tages doch keine Lust mehr auf Elektrotechnik und fange noch als Trainer an. Ich hoffe sowieso, dass ich mal Zeit finde, um so etwas ehrenamtlich zu machen. Nur hauptberuflich ist das im Moment keine Option.
“Ein klassisches Zeitabsitzen existierte nicht”
SPORT1: Boris Becker sagte einmal sinngemäß, dass es schwer ist, im Leben nie wieder etwas so gut zu können wie seinen Sport. Ist das ein Gedanke, der Ihnen zu gewissen Zeitpunkten auch Angst machte?
Doll: Selbst wenn es etwas abgehoben klingt: Ich hatte ja schon ein gewisses Talent für Biathlon. Wenige Leute können den Sport so ausüben, wie man es selbst einmal konnte. Da überlege ich schon manchmal: Hätte ich die Karriere bis zum letzten Quäntchen weiterführen sollen, solange es irgendwie gutgeht? Ist man das sogar der Gesellschaft schuldig, Deutschland nach außen zu vertreten? Oder ist es in Ordnung, wenn man sagt: ‚Ich will jetzt auch mal auf mich und meine Familie achten‘? Jetzt bin ich einer von vielen Elektrotechnikern. Als Sportler war man da in einer privilegierten Position. Ich fühle mich total wohl mit meiner Entscheidung. Aber viele denken sich wahrscheinlich: „Was hockt der sich jetzt in den Keller und fuchtelt an Schaltschränken herum?”
SPORT1: Gibt es etwas, das Sie am Leistungssport vermissen? Oder das Gegenteil?
Doll: Die Selbstständigkeit, die man als Leistungssportler oft hat, genoss ich sehr. Biathlon ist grundsätzlich eine Einzelsportart. Es gibt keinen Trainer, der die Schuld bei Misserfolgen auf sich nimmt oder sich vor einen stellt. Am Ende war man für sich selbst verantwortlich. Dazu hatte man diese Zielstrebigkeit. Diesen eigenen Antrieb, etwas Großes zu erreichen. Man wollte immer weitermachen. Immer schneller vorankommen. Ein klassisches Zeitabsitzen existierte nicht.
SPORT1: Erinnern Sie sich an einen speziellen Moment, in dem Ihnen klar wurde, dass es nun an der Zeit ist, aufzuhören?
Doll: Nein, das war ein längerer Prozess. Es gab immer einen Wechsel zwischen der Suche nach Motivation und dem 100-prozentigen Dasein. Hinzu kamen die langen Abwesenheiten von zu Hause. So überwogen für mich am Ende die Nachteile des Leistungssports. Und dann bin ich ein Mensch, der gerne nach vorne blickt. Deshalb hatte ich mich schon früh auf das neue Kapitel gefreut. Vor der Saison 2023/24 war klar, dass es die letzte sein würde. Ganz egal, was passiert.
SPORT1: Welche Augenblicke Ihrer Karriere sind Ihnen am meisten in Erinnerung geblieben?
Doll: Der schönste Moment war letztlich der WM-Titel 2017 im Sprint von Hochfilzen – ein unglaubliches Erlebnis. Einerseits überraschend. Andererseits war es auch ein super Rennen, vielleicht mein bestes überhaupt. Ich hatte Siege, bei denen ich mich gar nicht so gut gefühlt habe. Bei diesem Rennen war das anders. Ich erinnere mich bis heute an alles. An die Laufrunde, an das Schießen. Als Negativerlebnis fallen mir die Olympischen Spiele in Peking ein. Drei Wochen in dieser Corona-Situation waren extrem belastend und am Ende flog man trotz aller Investitionen erfolglos nach Hause. Das war eine wirklich prägende Zeit.
So schätzt Doll die Lage im deutschen Biathlon ein
SPORT1: Nun können Sie den deutschen Biathlonsport aus der Distanz betrachten. Wie bewerten Sie die aktuelle Lage?
Doll: Dass es im Sport ab und zu Durstjahre gibt, die man durchschreiten muss, ist nichts Neues. Dabei geht es nicht nur um das richtige oder falsche Training, sondern auch um die Talente. Derzeit gibt es eine Lücke. Aber ich hoffe, dass mehr Athleten nachkommen. Die Jungs im DSV-Team sind sehr fleißig. Vielleicht gibt es eines Tages sogar einen Überflieger, der Laufen und Schießen auf Top-Niveau zusammenbringt. Bei mir war es auch ein bisschen so: Ich war ein guter Läufer, habe es am Schießstand aber oft nicht hinbekommen. Genauso ist es im aktuellen Team bei vielen. Jeder kann bestimmte Dinge richtig gut, aber es fehlt oft ein Tick, um sich konstant in der Weltspitze zu bewegen.
SPORT1: Frankreich und Norwegen scheinen den anderen Nationen bei den Männern in den vergangenen Jahren ein gutes Stück enteilt zu sein.
Doll: Das ist nicht von der Hand zu weisen. Und die generelle Situation in Deutschland wird leider nicht besser. Davon sind alle Sportarten betroffen. Immer weniger Leute treiben Sport, was sehr schade ist. Das sind tiefe sportpolitische Themen. Ich mache mir viele Gedanken darüber, wie man selbst etwas zurückgeben und mehr Kinder dafür motivieren kann. Aus meiner Sicht hängt das allerdings auch mit den Eltern zusammen. Sie müssen einen gewissen Lebensstil verkörpern. Wenn sie selbst keinen Bezug zum Sport haben, wie sollen die Kinder dann einen bekommen?