Was geschah am 6. Mai 2017 in einem Hotelzimmer in Lake Placid? Die ganze Wahrheit wird vielleicht für immer im Verborgenen bleiben, jedoch hat der Bobsport heute vor acht Jahren definitiv einen seiner größten Athleten verloren.
Der rätselhafte Tod einer Bob-Ikone
Der Tod von Steven Holcomb im Alter von nur 37 Jahren hat die Szene erschüttert und Fragen aufgeworfen, die noch immer nicht abschließend geklärt sind. Der US-Amerikaner wurde am besagten Tage im olympischen Trainingscenter in Lake Placid tot in seinem Zimmer aufgefunden.
Schnell kursierte der Verdacht eines Suizids, jedoch starb die Bob-Ikone offiziell an einer Lungenstauchung und Wasser in der Lunge - so jedenfalls der Autopsiebericht. Die gerichtsmedizinische Untersuchung brachte dann eine große Menge von Alkohol (1,8 Promille) und Schlafmittel ans Licht.
Während die Familie des verstorbenen Bobpiloten verständlicherweise darauf aus ist, keine weiteren Details an die Öffentlichkeit zu lassen, beschäftigt die Sportwelt noch immer die Frage, ob es sich um einen Unfall oder einen Suizid gehandelt haben könnte.
Nach außen gerichtet wirkte Holcomb stets bestens gelaunt und brachte euphorische Fans mit an die Eiskanäle dieser Welt. Tief im Inneren des US-Amerikaners sah es aber häufig ganz anders aus.
Schwere Augenkrankheit behindert Aufstieg in die Weltspitze
Holcomb, der 1999/2000 bei der Utah National Guard in das „Army World Class Athlete Program“ aufgenommen wurde, erwies sich frühzeitig als großes Talent und nahm 2002 erstmals an Weltmeisterschaften teil. Im selben Jahr wurde bei ihm jedoch eine fortschreitende Verformung der Hornhaut diagnostiziert, die sein Sehvermögen immer weiter einschränkte.
Später beschrieb er scherzend in einem Interview, seine Sicht im Eiskanal sei gewesen, „wie wenn ich ein paar Drinks zu viel gehabt hätte und die Leute mir rieten, den mittleren anzupeilen. Ich hatte kein Problem damit – das tat ich ja sowieso immer“. Wie heftig ihn die Angelegenheit aber auch emotional mitgenommen hatte, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.
180-Grad-Wende nach Suizidversuch
Der sonst so furchtlose Pilot wurde in Wirklichkeit von schlimmen Sorgen und Ängsten geplagt. Diese gingen so weit, dass er sich - wie er in einem Interview für einen Dokumentarfilm verriet - im Jahr 2007 das Leben nehmen wollte.
„Ich hatte Angst, komplett zu erblinden. Es schien mir der logische Weg. Sie würden nicht mehr Geld und Zeit für mich verschwenden. Ich würde allen einen Gefallen machen, und alles würde gut“, schilderte er seinen Suizidversuch, über den er auch in seiner 2012 erschienenen Autobiographie „But Now I See – My Journey from Blindness to Olympic Gold“ offen sprach.
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Anmerkung der Redaktion: Wenn Sie sich selbst von Depressionen und Suizidgedanken betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (http://www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in zahlreichen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.
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Erst im Anschluss an den gescheiterten Versuch offenbarte er seinem Coach Brian Shimer erstmals seine Sehprobleme, was eine 180-Grad-Wende nach sich zog. Shimer verwies den Athleten an einen Arzt, der mit einer neuartigen Operation Holcombs Sehfähigkeiten wiederherstellen konnte.
Holcomb verewigt sich als fünfmaliger Weltmeister und Olympiasieger
Von hier an ging es für das Naturtalent steil bergauf. Holcomb gewann 2008 seine erste WM-Medaille und wurde 2009 in Lake Placid erstmals Weltmeister. Doch damit nicht genug. Im Jahr 2010 wurde der US-Amerikaner im „Night Train“ - so wurde sein Viererschlitten angesichts der auffälligen schwarzen Markierung genannt - Olympiasieger.
„Ich blicke nicht wirklich auf die Strecke, es ist mehr so, dass ich alles fühle und spüre, wie der Schlitten sich bewegt“, beschrieb Holcomb sein Erfolgsgeheimnis, selbst wenn seine Sehfähigkeiten längst wieder intakt waren.
Zum ganz großen Bob-Idol der USA wurde Holcomb dann im Jahr 2012, als er bei der Heim-WM in Lake Placid drei Goldmedaillen sammelte.
Holcomb mischte bis zur Saison 2016/17 im Weltcup mit, wenngleich seine letzte große Medaille eine silberne bei den Olympischen Spielen 2014 war. Ob die nicht mehr ganz so starken Performances die Angst und schlechten Gedanken aus der Vergangenheit zurückgebracht haben, ist bis heute unklar. Nur wenige Wochen nach Ende der Saison 2016/17 ereignete sich sein tragischer Tod.
Scheiterte Holcomb an seinem eigenen Druck?
Filmemacher Brett Rapkin glaubt nicht an die Selbstmordtheorie. „Es gab für mich keine Anzeichen, dass er sich etwas antun wollte. Er freute sich auf die Rückkehr von Teamkollegen, er hatte viele Pläne“, schilderte dieser. Eigentlich wollte Rapkin eine Dokumentation über die Erfolgsgeschichte des Athleten erstellen, am Ende lautete der Titel jedoch: „Die Last des Goldes“.
Genau das war schließlich immer das Ziel der Bob-Ikone. „Ich halte mich nicht zurück. Entweder wir gewinnen oder wir stürzen. Ich bin nicht hier, um Fünfter zu werden“, beschrieb er seinen Ehrgeiz in seiner Biographie. Dieses Motto hat er sich bereits als Kind zu eigen gemacht, als er zunächst als talentierter Skifahrer um Bestzeiten fuhr.
Holcomb selbst kämpfte in den letzten Monaten seines Lebens um die Aufklärung der Augenkrankheit, die sein Leben so stark geprägt hat. In diesem Zuge erhielt er viele E-Mails. „Es ist einfach unglaublich und je mehr Menschen wir erreichen und darüber aufklären können, desto mehr Menschen können wir retten“, erklärte er in einem Interview mit dem Magazin People kurz vor seinem Tod.
Holcomb selbst konnte zwar sein Augenlicht retten, am Ende aber nicht sein Leben. Was bleibt, sind viele offene Fragen, aber auch die Erinnerung an einen wahren Champion im Eiskanal.