Der deutsche Wintersport ist in dieser Woche von einer Doping-Enthüllung mit potenziell großer Tragweite erschüttert worden: Skilanglauf-Olympiasiegerin Victoria Carl wurde bei einer Dopingkontrolle positiv auf das verbotene Mittel Clenbuterol getestet.
Doping-Beben: „Eine eigene Kategorie“
Die Gesamtweltcup-Zweite der vergangenen Saison ist nach eigener Darstellung von einem Bundeswehrarzt ein Hustenmittel mit der verbotenen Substanz verabreicht worden, ihr droht eine Sperre, die sie die Teilnahme an den Winterspielen 2026 in Italien kosten könnte.
Wie ist der Fall zu bewerten? Und wie wahrscheinlich ist, dass die sichtlich von der Situation gebeutelte Thüringerin um eine längere Sperre herumkommt? SPORT1 hat nachgefragt beim Nürnberger Pharmakologen Professor Fritz Sörgel, einem der bekanntesten deutschen Anti-Doping-Experten.
SPORT1: Herr Sörgel, wie bewerten Sie den Fall Victoria Carl?
Fritz Sörgel: Dieser Fall muss wirklich in eine ganz eigene Kategorie eingeordnet werden. An sich gibt es oft Fälle, wo die Ausrede benutzt wird: Der böse Arzt hat mir dieses Medikament verschrieben und ich wusste gar nicht, was drin ist. Aber hier ist es nochmal deutlich spezieller: Hier kann die Sportlerin tatsächlich sagen, dass das jederzeit nachvollziehbare medizinische System mit einem vereidigten Truppenarzt einfach nicht funktioniert hat. In diesem Fall scheint das Schieben auf den Arzt tatsächlich keine Ausrede zu sein.
SPORT1: Sie sprechen an, dass das System nicht funktioniert hat. Was ist da Ihrer Meinung nach schiefgelaufen?
Sörgel: Zum einen soll ja die Apotheke nicht die einfache Form des Medikamentes geliefert haben, in dem sich nur der harmlose und nicht verschreibungspflichtige Wirkstoff Ambroxol befindet, sondern das verschreibungspflichtige Spasmo Mucosolvan, in dem sich zusätzlich das den Dopingmitteln zuzurechnende Clenbuterol befindet. Dann kommt noch hinzu, dass der Fall eben bei den Militärspielen passiert ist und somit nicht die normalen Sportmediziner des DSV verantwortlich waren, sondern eben ein Militärarzt, der sich mit den Doping-Bestimmungen anscheinend weniger auskannte.
„Solch eine Verabreichung ist nicht entschuldbar“
SPORT1: In dem verabreichten Medikament war dann die verbotene Substanz Clenbuterol vorhanden. Ist diese zwingend leistungssteigernd?
Sörgel: Es kommt da ganz klar auf die Dosis an. Bei geeigneter Dosierung kann Clenbuterol leistungssteigernd wirken, deshalb stand es schon auf der ersten WADA-Verbotsliste aus dem Jahr 2004. In der Tablette Spasmo Mucosolvan sind 20 Mikrogramm davon drin. Das hat keine leistungssteigernde Wirkung. Wenn man statt der 20 Mikrogramm aber das Dreifache nimmt, dann darf man schon einen Effekt als Fat-Burner erwarten und so nimmt die Muskelmasse eben relativ zur Fettmasse zu. Das ist leistungsfördernd. In noch höherer Dosis, also ungefähr das Zehnfache von dem hier vorhandenen Fall, ist es dann einfach ein ganz normales Anabolikum. Deswegen muss eigentlich jeder, sei er Arzt oder auf eine andere Art für einen Spitzensportler verantwortlich, wissen, dass Clenbuterol eine verbotene Substanz ist.
SPORT1: Die Hauptschuld hat der Arzt, der das Medikament verschrieb?
Sörgel: Der Arzt trägt an diesem Fall wohl tatsächlich die Hauptschuld. Natürlich kann es sein, dass er zuvor als Militärarzt noch nie mit einer Sportlerin zu tun hatte. Aber ihm sollte schon klar sein: Wenn er eine Hochleistungs-Sportlerin behandelt, die ja auch WM- und Olympia-Medaillen gewonnen hat, dann muss er schon nochmal genauer schauen, was er ihr für ein Medikament gibt. Als verabreichender Arzt trägt er die Verantwortung und wenn er eine Sportlerin oder einen Sportler vor sich hat, ist solch eine Verabreichung einfach nicht entschuldbar.
SPORT1: Wie kann es dann dennoch passieren, dass ein Arzt einer Leistungssportlerin solch ein nicht erlaubtes Medikament verschreibt?
Sörgel: Das Problem war ja offensichtlich, dass Victoria Carl eben diesen Wettkampfhusten hatte, also einen Husten, der deutlich schlimmer ist, als der normale Husten, den man mit einfachem Hustensaft sehr schnell bekämpfen kann. Gegen diesen Wettkampfhusten hilft manchmal nur stärkere Medizin. Vielleicht hat deshalb eben auch der Arzt, ohne großen Hintergedanken, dieses Mittel bestellt. Bitter ist aber eben, dass dieses Mittel klar auf der Anti-Doping-Liste steht. Es kann gut sein, dass der Arzt nicht weit genug gedacht hat und einfach ein Mittel verschrieben hat, das schnell hilft. Wenn er dann noch nie mit Sportlerinnen und Sportlern zu tun hatte, kann da auch schnell mal durchrutschen, dass das Mittel für diese eben nicht geeignet ist. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass es in der Absprache mit der Apotheke zu einem Missverständnis gekommen ist und er das Mucosolvan ohne Clenbuterol meinte, aber die Kombination mit Clenbuterol bekam.
SPORT1: Wie wäre das konkret abgelaufen?
Sörgel: Es könnte sein, dass die Apotheke das gewünschte Medikament nicht zur Verfügung hatte und deshalb ein Ersatzprodukt geliefert hat. Das kann man außerhalb des Sports mal machen, aber im Sport kann das zu einer Katastrophe führen, weil das ähnliche Mittel dann eben plötzlich doch auf der Liste der verbotenen Substanzen steht. Vielleicht hat aber auch der Militärarzt genau dieses Mittel angefordert, weil die Standardversion für den Wettkampfhusten wenig hilfreich ist. Wenn es sich bei der Betroffenen nicht um eine Leistungssportlerin gehandelt hätte, wäre die Art der Behandlung eine ganz normale Therapie gewesen. Beim Medikament Spasmo Mucosolvan sollten aber eigentlich die Alarmglocken klingeln. Natürlich steht nicht deutlich auf der Verpackung, dass es mit Clenbuterol direkt gleichzusetzen ist, aber an sich ist die Verbindung trotzdem recht deutlich.
Carl? „Sie wird dem Arzt da zu sehr vertraut haben“
SPORT1: Die Alarmglocken hätten bei solch einer erfahrenen Sportlerin wie Victoria Carl aber doch auch eigentlich klingeln müssen, oder?
Sörgel: Eigentlich kann jeder mit einem Handy heutzutage bei allen Medikamenten prüfen, ob dieses verboten sind oder nicht. Anhand der sogenannten WADA–Verbotsliste, die es seit 2004 gibt. Klar ist es mit den medizinischen Fachbegriffen manchmal schwer zu durchblicken, aber insgesamt findet man mit etwas Arbeit unzählige Dokumente, an denen man sehen kann, ob die Einnahme des Medikaments gefährlich sein kann oder nicht. Trotzdem habe ich bei Victoria Carl das Gefühl, dass sie sich wirklich einfach auf ihren Arzt verlassen hat und ihr der Fehler nicht bewusst war.
SPORT1: Sie glauben also Carls Darstellung?
Sörgel: Sie scheint sich darüber wirklich keine Gedanken gemacht zu haben. Sie hat das Medikament ja sogar korrekt auf dem Kontrollbogen eingetragen, der beim Urintest ausgefüllt werden, und auf dem jede eingenommene Substanz aufgeführt sein muss. Das spricht schon für sie. Klar hätte sie auch auf die Tablettendose schauen können oder eben die Listen vergleichen können, aber sie wird dem Arzt da zu sehr vertraut haben.
SPORT1: Unwissenheit schützt bekanntlich nicht vor Strafe. Mit welcher Sperre rechnen Sie?
Sörgel: Das Prinzip, dass Unwissenheit vor Strafe schützt, gilt tatsächlich nicht mehr felsenfest. Es war lange so, man nannte das „Strict Liability“: Jeder Sportler und nur er selbst ist für das verantwortlich, was in seinen Körper gelangt. Schon seit einigen Jahren wurde diese Regel allerdings aufgeweicht, auch vom Internationalen Sportgerichtshof CAS in Lausanne. Es wurden schon Athleten freigesprochen oder mit einer nur kleinen Strafe belegt, die sich deutlich mehr haben zu Schulden kommen lassen als Victoria Carl. Ich erinnere hier zum Beispiel an den Fall Jannik Sinner, der nur drei Monate gesperrt wurde. Ich rechne im besten Fall mit einer Sperre von sechs Monaten, aber bis zwei Jahre sind denkbar.
SPORT1: Ein entscheidender Unterschied mit Blick auf die Olympischen Spiele im Februar, also etwas mehr als sechs Monaten.
Sörgel: Ja, man noch nicht ganz genau sagen, ob eine Sperre das Olympia-Aus bedeuten würde. Der Fall ist ja nun seit Ende Mai intern bekannt und der DSV scheint komplett hinter ihr zu stehen. Solange der Verband sie nicht sperrt, muss erstmal auf die NADA gewartet werden, die sie aber nach ihrer üblichen Vorgehensweise sperren muss. Die Sperre könnte bei zwei Jahren liegen, aber auch weniger, wie der Fall Sinner gezeigt hat. Seine drei Monate Sperre waren gerade so terminiert, dass er für seine wichtigsten Wettbewerbe nicht gesperrt war. Gegen die Entscheidung einer wie lange auch immer gearteten Sperre kann Victoria Carl beim CAS Widerspruch einlegen. Bis zu einer Urteilsverkündung dauert es in der Regel aber sehr lange. In dieser Zeit darf sie an Wettbewerben teilnehmen und sie könnte so eine Teilnahme bei Olympia erreichen. Damit würde sie dieselbe und höchst erfolgreiche Taktik eingelegt wie der Handballtorwart Nikola Portner (Anm. d. Red.: Handball-Torhüter des SC Magdeburg), der trotz aus meiner Sicht eindeutigem Dopingvergehen bis heute spielt. Insgesamt muss sie ihre Geschichte bei möglichen Gerichtsverhandlungen einfach nur gut verkaufen. Man sieht ja in vielen Fällen, was vor dem CAS manchmal möglich ist. Sie hat eine Geschichte zu erzählen, die kein bisschen schlechter ist als die von Portner und Sinner.