Es war ein öffentlicher Hilferuf, der riesige Wellen geschlagen hat - nicht nur in der Tennis-Welt.
Es geht um etwas Größeres
Nach seiner Erstrundenniederlage in Wimbledon gegen Arthur Rinderknech hat Alexander Zverev offenbart, seit längerem unter mentalen Problemen zu leiden. Er fühle sich „leer“ wie nie, „ziemlich allein im Leben“ und denke über eine Therapie nach.
Die deutsche Nummer eins im Tennis hat damit eine große Debatte über ein immer noch eher tabuisiertes Thema ausgelöst, zahlreiche Tennis-Kollegen haben sich darin zu Wort gemeldet, auch Fans und Experten diskutieren: Wie ist Zverevs bedenklich anmutende Situation einzuschätzen? Und welche Rolle spielen die speziellen Eigenheiten der Profitennis-Branche dabei?
Alexander Zverev: Perfektionismus als Fluch und Segen
Aus Sicht von Sportpsychologe und Mentaltrainer Matthias Herzog hat der öffentliche Druck des Gewerbes Anteil an der Lage - in Kombination mit Zverevs Persönlichkeit.
„Er ist sehr perfektionistisch und hat gleichzeitig den Anspruch, der Beste der Welt zu sein. Das setzt ihn enorm unter Druck“, sagt Herzog im Gespräch mit SPORT1 über den Olympiasieger von Tokio: „Diese Ansprüche hat er an sich selbst, scheitert allerdings regelmäßig daran.“
Herzog, der schon mit dem Handball-Traditionsklub THW Kiel und den Fußballerinnen des VfL Wolfsburg zusammengearbeitet hat, glaubt, dass derselbe Ehrgeiz, der Zverev zu einem Weltklassespieler gemacht hat, auch ein innerer Widersacher ist. Die bislang vergebliche Jagd nach einem Grand-Slam-Titel und Platz eins in der Weltrangliste, das schwere Erbe des einstigen deutschen Idols Boris Becker: Herzog hat aus Zverevs öffentlichen Äußerungen den Eindruck, dass diese Themen ihn enorm bewegen.
„Durch diese Dinge ist er extremem Druck ausgesetzt“, erläutert Herzog: „Und einen Großteil des Drucks macht sich Zverev dabei selbst. Und jedes Mal, wenn er scheitert, stellt er sich selbst infrage und hält sich für den Verlierer der Nation. Das drückt er auch in den Interviews aus.“
Tennis-Branche als Stressfaktor
Die sportliche Ebene ist die eine, die persönliche Ebene die andere: Die Art und Weise, wie Zverev sich in London äußerte, hinterließ den Eindruck, dass es um mehr geht als sportlichen Frust, dass die Grenze zu ernsteren psychischen Beschwerden überschritten ist.
Das Thema ist sensibel und in der Beurteilung Zurückhaltung geboten. Das Wort „Depressionen“ hat Zverev nicht in den Mund genommen - und Herzogs Kollegin Marion Sulprizio hat im Gespräch mit dem ZDF betont, dass da ohnehin nur eine professionelle Behandlung genauen Aufschluss geben könne: „Wenn der Sportler Klarheit über seinen Zustand erhalten möchte, muss ein Psychotherapeut oder -psychiater eine sogenannte Differentialdiagnostik durchführen, um das genauer zu klassifizieren.“
Sulprizio arbeitet am psychologischen Institut der Sporthochschule Köln als Projektleiterin der Initiative „MentalGestärkt“, die auch mit der Robert-Enke-Stiftung kollaboriert. Sie weiß aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse um die psychische Last, der Spitzensportler ausgesetzt sind: „Es gibt Studien aus der Population der Leistungssportler, die zeigen, dass bei ihnen depressive Verstimmungen genauso häufig vorkommen wie in der Normalpopulation. Spitzensportler haben ähnliche Risiken wie Topmanager: dauerhafter Erfolgsdruck und öffentliche Sichtbarkeit und Bewertbarkeit durch (soziale) Medien und Hasskommentare.“
Das Profitennis sei in speziellem Maße fordernd: „Zverev hat generell wenig Zeit, sich von Schlagzeilen und Turnieren zu erholen. Dann folgt der nächste Einschlag.“
Zverev öffnet sich - ein hilfreiches Signal
Die Expertin weist in dem Zusammenhang darauf hin, dass Zverev aufgrund seines Karriere- und Lebenswegs noch mehr als andere im öffentlichen Brennglas steht.
Schlagzeilen um Konflikte mit dem früheren Management und ehemaligen Trainern, der Wirbel um sein Verhalten während der Corona-Pandemie, nicht zuletzt auch die breit diskutierten Anschuldigungen häuslicher Gewalt und das Verfahren wegen des Vorwurfs der Körperverletzung, das im vergangenen Jahr gegen eine Zahlung von 200.000 Euro an Staat und gemeinnützige Einrichtungen eingestellt wurde: Zverevs zwiespältiges Bild in der Öffentlichkeit ist nicht nur von seinen sportlichen Leistungen geprägt - das Ausmaß und die Schärfe der Beurteilungen der Person Zverev intensivieren sich dadurch.
Was genau Zverev gerade in welchem Maß bewegt, lässt sich von außen nicht vollends beurteilen - Expertin Sulprizio begrüßt allerdings Zverevs offenes Bekenntnis zu seinen Problemen, auch aus gesellschaftlicher Sicht: „Je mehr Menschen sich öffnen, desto weniger ist dieses Thema in der Ecke der Tabus. So kann man besser auf die Thematik aufmerksam machen und früher erkennen, wenn Warnzeichen vorliegen. Da sind wir in Deutschland noch nicht ganz so weit und liberal.“ Die Idee, dass mentale Probleme „ein Zeichen von Schwäche“ seien, sei längst nicht aus der Welt.
Viel Zuspruch aus der Tenniswelt
In der Tennis-Szene scheint die Sensibilität derweil groß, zahlreiche Kolleginnen und Kollegen wandten sich bestärkend an Zverev, von Novak Djokovic bis zu Aryna Sabalenka, der Weltranglistenersten der Frauen. Sabalenka berichtete in Wimbledon von einer eigenen, jahrelangen Therapie und darüber, welche Erkenntnisse sie Zverev daraus ans Herz legen könne.
„Es ist wirklich wichtig, offen über alles zu reden, was einen umtreibt“, betonte Sabalenka, die nach eigener Aussage selbst fünf Jahre lang therapeutische Hilfe in Anspruch genommen hatte. „Wenn du es für dich behältst, wird es dich zerstören“, meinte Sabalenka. „Ich denke, er muss sich einfach denjenigen anvertrauen, die ihm nahestehen. Ich glaube, er muss einfach ein bisschen offener sein. Nicht nur sich selbst gegenüber, sondern auch gegenüber seiner Familie und seinem Team, damit alle wissen, was in ihm vorgeht.“
Sportpsychologe Herzog ergänzt bei SPORT1, dass er für wesentlich hält, wie sehr sich Zverev wirklich öffnet und wie konsequent er sich wirklich hinterfragt.
„Das Beste, was ihm passieren konnte“?
Herzog sieht in Zverevs Karriere gewisse Muster: Die Konflikte mit renommierten Trainern wie Juan Carlos Ferrero und Ivan Lendl, die tragende Rolle von Bruder Mischa und Vater Alexander Senior in Zverevs Umfeld sprechen aus Herzogs Sicht dafür, dass Zverev ungern die Kontrolle abgibt und Impulsen von außen eher skeptisch gegenübersteht. Ob sich das fundamental wandeln wird, bleibe abzuwarten.
Der Mentalcoach sieht dabei prinzipiell eine große Chance darin, aus der Erfahrung von Wimbledon zu lernen: „Das kennt man ja von anderen auch, dass sie aus solchen Niederlagen die besten Schlüsse für ihre weitere Laufbahn ziehen konnten.“ Herzog geht so weit zu sagen: Wenn Zverev es richtig angehe, habe die Schockwirkung der bitteren Niederlage gegen Rinderknech das Potenzial, „das Beste zu sein, was ihm passieren konnte“.
Umgekehrt bestehe die Gefahr, dass sich Zverevs negativer Umgang mit Misserfolgen „sich immer mehr verfestigt und mit jedem großen Rückschlag immer schlimmer wird“. Zverev dürfe weder den Fehler machen zu glauben, dass therapeutische Hilfe „alles löst“, noch dürfe er dem Glauben verfallen, dass sich mit etwas Abstand schon alles von allein einpendele. Es gehe darum, sich auf die nötigen Anstöße ernsthaft einzulassen.
„Am Ende ist Tennis hier nur der Triggerpunkt“
Externe Hilfe, sagen fast alle, die sich zum Thema Zverev zu Wort gemeldet haben, sei wertvoll. Für Zverevs weitere Karriere, aber auch für sein Leben außerhalb des Tennis.
Wenn es um den mentalen, psychischen Bereich gehe, seien diese beiden Sphären untrennbar miteinander verwoben, befand Zverevs Kollege Andrey Rublev aus Russland bei einer PK in London.
Wenn Zverev sage, dass er sich „leer“ und „allein“ fühle, habe das „am Ende nichts mit Tennis zu tun“, glaubt Rublev: „Am Ende ist Tennis hier nur der Triggerpunkt, das Ventil. Da ist etwas in dir, womit du dich auseinandersetzen musst.“